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750 Wörter

    Wer im Winterthurer Jubiläumsbuch abgedruckt werden wollte, musste Wörter zählen. Es sollten nämlich entweder 75 oder 750 sein. Anfänglich reagierte ich ablehnend auf diese Vorgabe. Doch die strikte Begrenzung erwies sich überraschenderweise als anregend. Wie von selbst entstanden zehn kurze Texte à je 75 Wörter, die sich wie in einem Mobile die Balance halten und durch Assoziationen miteinander verbunden sind.


    OHNE TITEL

    Reihenfolge   Auf der Suche nach der Herkunft des Wortes «Autor» blättere ich im Etymologie-Wörterbuch von Alexander Kluge und bleibe beim Begriff «Autodafé» hängen, der, wie ich lese, die «Verbrennung von Schriften» bezeichnet, während der Inquisition für die «feierliche Hinrichtung von Ketzern» verwendet wurde, aus dem Portugiesischen stammt und übersetzt «Akt des Glaubens» heisst, und es friert mich: Gleich unter den Scheiterhaufen und den aufgepeitschten Menschenmassen steht, in gespenstisch anmutender Stille, das Wort «Autodidakt».

    10 x 75   Wörter will ich aneinanderreihen und auch Graf Rudolf erwähnen, der seine Feder ins Tintenfass tauchte und festhielt, dass der ummauerte Ort W. eine Stadt sei mit Rechten und Pflichten. Im Internet finde ich Bilder. Der Habsburger trägt einen weiten Mantel, er hat fast schulterlanges Haar, auf seinem Kopf sitzt eine Krone, und ich gleite ab ins Reich der Märchen, wo der König mit dem Drachen kämpft. Die Burg verteidigt. Und selbstverständlich siegt.

    Burgbesuch   Hellebarden und Speere verdunkeln die Wände, bewacht von leeren Rüstungen mit heruntergeklapptem Visier. Mildes Licht fällt durch die Butzenscheiben. An den Stütz- und Deckenbalken prangen Brustpanzer, Schilde, Helme. Eine Kinderschar stürmt in den Saal. Wie ein laut zwitschernder Vogelschwarm schwirren die Kleinen zwischen der antiquierten Kriegsgarnitur umher. «Wo ist die Folterkammer?», rufen sie, «zur Folterkammer!», und schon verlieren sich die hellen Stimmen. Die Ruhe kehrt zurück. In der Ferne ballern Schiesspflichtige. Es ist Samstag.

    Kontinuitäten   Täglich, Punkt halb zehn, tritt die Frau vom Haus vis-à-vis auf den Balkon. Ihr schütteres Haar ist auberginefarben, der Haaransatz weiss, sie hat einen Buckel, trägt einen Morgenrock. Die Zigarette im Mundwinkel, prüft sie die Geranien in den Balkonschalen.  Welke Blüten zupft sie weg. Sie mag um die Fünfundsiebzig sein, so genau weiss ich das nicht, ich kenne sie nicht, und doch hoffe ich, die Balkontüre öffne sich auch morgen, pünktlich um halb zehn.

    Heimatschein   Der Meldebestätigung für Niedergelassene entnehme ich, dass unter der neunstelligen Nummer 100.627.189 jene Schriften hinterlegt sind, die meine Heimat beglaubigen, und dass es sich bei dieser Heimat um meine Geburtsstadt W. handelt, was mich jedes Mal seltsam berührt. «Heimat»: ein bei einem Amt hinterlegter Schein. Ich hoffe, ich täusche mich nicht. Meine Verwandten wurden in den letzten hundert Jahren eingebürgert, ausgebürgert, rückgebürgert. Und mir wurde diese Heimat zugeteilt, einfach und eindeutig, eine reine Formalität.

    Kreiszahl   «Ungefähr», erklärte mein Vater. Man könne auch «über den Daumen gepeilt» sagen oder eben «Handgelenk mal Pi». Das sei die Bedeutung dieser Redewendung. Und ich war stolz, denn für mich stand fest, dass unser hierzulande einzigartiger Familienname, nach dessen Herkunft sich alle erkundigten, die deutsche Sprache geprägt hatte, so wie andere Namen die Weltgeschichte, bis ich am Gymnasium das griechische Alphabet kennenlernte und ernüchtert einsehen musste: «Pi» ist gar nicht die Kurzform von «Piniel».

    Zaubertrick   Die Eiserne Jungfrau wurde von einem Kinderfreund erfunden. Zu diesem Schluss gelangte ein Kind, das die gefährlich langen Stacheln auf der Innenseite ihres Rocks betrachtete. Links waren sie in Bauchhöhe eines Erwachsenen befestigt, rechts in der Höhe von dessen Herz und Hals. Im unteren Teil gab es einen Hohlraum. Stiesse man die beiden Türen kräftig zu, die Stacheln durchbohrten den Erwachsenen. Ein Kind jedoch bliebe unversehrt. Und alle dächten, es sei ein Wunder geschehen.

    Sprachkörper   Was für eine Verbindung! Das Wort «radebrechen» leitet sich nach Duden von jener mittelalterlichen Hinrichtungsprozedur mit dem Rad her, auf das man Menschen flocht, denen man zuerst die Knochen brach. Wer also eine Sprache nur mühsam und unvollständig spricht, richtet sie quasi grausam zu. Sprache zu personifizieren, befremdet mich. Ich muss an Migrantinnen, Touristen und Computer denken, an alle, die radebrechen und Sprache neu erfinden, try and error … und verstumme. Für einen Augenblick.

    Zeitsprung   «Ich saz ûf eime steine und dahte bein mit beine …» Um nachzudenken, nahm ich die Pose ein, die Walther von der Vogelweide einst beschrieben hatte, setzte den rechten Ellbogen auf die übereinandergeschlagenen Beine und legte das Kinn und eine Wange in meine Hand: Was wird Winterthur in siebenhundertfünfzig Jahren sein? Ödland? Weltstadt? Und die Menschen? Vielleicht findet jemand dieses Buch, dreht und wendet es in den Händen, schlägt es auf und denkt: (…)

    Möglichkeiten   Die Nachbarin vom Haus vis-à-vis öffnet die Balkontüre. Es ist, wie immer, Punkt halb zehn. Die Zigarette im Mundwinkel, nähert sich die Alte dem Geländer, beugt sich über die rot blühenden Geranien. Welke Blüten entfernt sie. Nach getaner Arbeit schaut sie auf. Die Frau mit dem Buckel blickt in meine Richtung, verharrt. Sieht sie mich? Vergewissert sie sich gar, dass ich an meinem Schreibtisch sitze, damit beschäftigt, Buchstaben und Satzzeichen in den Laptop einzutippen?
    © Jolanda Piniel