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Stimmen

aus der Begründung für den Werkbeitrag 2016 vom Kanton Zürich

„Hier ist eine Autorin am Werk, die uns Leserinnen und Leser mit Geschick und Humor in die Kompositionen ihres Stoffes und in den Bann zu ziehen versteht.“

Susanne Schenzle, Mitglied der Fachgruppe Literatur des Kantons Zürich


Pressestimmen zu „Die Verbannte“

Auf den Spuren einer stummen Vergangenheit

Roman Bucheli, NZZ 7.9.2012

In dieser Familie gibt es eine schwer lastende Zone des Schweigens. Je hartnäckiger Grossmutter und Mutter die Vergesslichen und Ahnungslosen spielen oder sich rabiat dem Gespräch verweigern, desto dringlicher stellen sich der Enkelin die Fragen nach der Geschichte ihrer Grosseltern. Sie weiss nur gerade, dass die Mutter vor dem Zweiten Weltkrieg in Bukarest geboren worden war, wohin ihr Grossvater von seinem Arbeitgeber zuvor entsandt worden war. Sobald sie indes mit Fragen ihre Mutter bedrängt, reagiert diese nicht anders, als die Grossmutter ihrerseits auf entsprechende Fragen ihrer Tochter reagiert hatte: mit abweisenden Gesten, notfalls auch mit echten oder vorgetäuschten Krankheitsschüben.

Das be- und verschwiegene rumänische Kapitel ihrer Familiengeschichte aber lässt der Enkelin keine Ruhe. Sie beschliesst, da die Grossmutter tot und die Mutter keine richtige Hilfe ist, für eine Recherche nach Bukarest zu fahren. Zuvor erhält sie von Grossvaters zweiter Frau dessen handschriftliche Aufzeichnungen über die Jahre in Bukarest und die Zeit nach der Trennung von der ersten Frau und seiner Tochter.

So begibt sich die Ich-Erzählerin auf eine doppelte Entdeckungsreise. In Grossvaters Aufzeichnungen hält sie gleichsam einen Baedeker für die dunklen Bezirke der Familiengeschichte in der Hand. Ihre Reise nach Bukarest wiederum führt sie in ein ihr fremdes Land, das seinerseits nach langen Jahren der Abschottung den Anschluss an den Westen und die Gegenwart sucht.

Jolanda Piniel lässt ihre Erzählerin während der langen Zugfahrt in den unbekannten Osten und in eine nebelverschleierte Vergangenheit in den Memoiren des Grossvaters lesen. Raffiniert und doch diskret werden damit die beiden Reisen parallelisiert. Suchte der Grossvater nach einer Zukunft für seine Familie ausserhalb des Einzugsbereichs von Nazideutschland (vergeblich, wie sich später erweisen sollte), forscht die Enkelin nun nach der Vergangenheit von Mutter und Grossmutter.

Behutsam und auch ein wenig ängstlich tastet sie sich durch die unwegsame Gegenwart auf der Suche nach jenen Spuren, mit der die seltsame Lücke in der Familiengeschichte geschlossen werden könnte. Was für sie selbst eine gewiss bewegende und berührende, aber gleichwohl akribisch und mit der dafür notwendigen emotionalen Distanz bewältigte Recherche darstellt, erweist sich für ihre Mutter als späte Versöhnung mit einer traumatischen Kindheitserfahrung.

Der Hartnäckigkeit der Tochter verdankt sie am Ende die Rückkehr in eine Vergangenheit, die sie lange verdrängt und aus ihrer Erinnerung gelöscht hatte. Im rhythmischen Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit erschliesst Jolanda Piniel in ihrem Roman Stück für Stück das Neuland, in dem ihre Figuren unterwegs sind. Nur in leisen Andeutungen zeigt sie, wie Mutter und Tochter allmählich ein neues, innigeres Verhältnis zueinander gewinnen, dass mithin die historische Recherche nicht ohne Folge für das Jetzt bleibt.

Beachtlich ist das kompositorische Geschick, das die 1969 in Winterthur geborene Autorin mit ihrem Debütroman unter Beweis stellt. Hingegen passieren ihr zu viele sprachliche Schnitzer («Auf dem Sofa räkelte sich eine Hose.»). Aber man sollte sich davon nicht den Blick trüben lassen für den souveränen Umgang mit einem ebenso vielschichtigen wie anregenden Stoff.


Auf den Spuren der Mutter in Bukarest

Dr. Markus Fischer, Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien 26. Mai 2013

In ihrem Roman mit dem Titel „Die Verbannte“ begibt sich die 1969 in Winterthur geborene Schriftstellerin Jolanda Piniel, die nach ihrem Studium der Ethnologie und der spanischen Literaturwissenschaft als Radioredakteurin, Moderatorin, Filmemacherin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Zürich tätig war, auf familiäre Spurensuche. Sie lässt ihre Romanfigur, die Ich-Erzählerin Debora, nach Bukarest aufbrechen, wo die Mutter 1938 das Licht der Welt erblickte und von wo aus diese im Jahre 1942 als vierjähriges Mädchen zu Verwandten in die Schweiz geschickt wurde, während die Eltern in Bukarest zurückblieben.

Die Rumänienreise der Enkeltochter Debora gilt nicht nur der Erforschung des Schicksals der Mutter, sondern vielmehr dem der Großmutter sowie der Erhellung der dunklen Stellen in ihrer Familiengeschichte. Warum zog die Großmutter, die ihre Tochter doch immerhin auf den rumänischen Namen Doina taufte, einen derart radikalen Schlussstrich unter ihre rumänische Vergangenheit? Warum übernahm Doina, Deboras Mutter, diese Tabuisierung Rumäniens und Bukarests und unternahm selbst keinerlei Anstalten, den Ort ihrer Kindheit wieder aufzusuchen? Wieso und woran zerbrach die Ehe der Großeltern? Waren es private, persönliche, charakterliche Gründe? Oder spielte die nationale Verschiedenheit der Eheleute – die Großmutter Klara war Schweizerin, der Großvater Eugen Deutscher – dabei etwa eine Rolle?

Schnell wird in Piniels Roman deutlich, dass die Zeitgeschichte stark in die Familiengeschichte hineinwirkt und diese geradezu vorantreibt. Im Jahre 1935 wird der Großvater als Deutscher aus der Schweiz ausgewiesen. Trotz einer Vielzahl persönlicher, verwandtschaftlicher und beruflicher Kontakte wird der Einbürgerungsantrag des deutschen Großvaters abgelehnt. Die Schweizer Großmutter weigert sich ihrerseits, ins Deutschland Hitlers zu ziehen. Bukarest ist dann der Ausweg aus dem Dilemma: Die Schweizer Firma Hofer AG, bei der Eugen Geck angestellt ist, bietet ihm einen Arbeitsplatz bei der rumänischen Tochterfirma Hofer Bucureşti an, den dieser dann 1936 antritt.

Auch die Bukarester Zeit steht im Zeichen der politischen Vorgänge jener Jahre. Bei Arbeiten im Königspalast telefoniert der Großvater zufällig mit Elena Lupescu, der Geliebten des rumänischen Königs Carol II. Der Tod des rechtsradikalen Führers Corneliu Zelea Codreanu im Jahre 1938, die Ermordung des rumänischen Ministerpräsidenten Armand Călinescu im Jahr darauf, die Exekution seiner Attentäter auf Befehl des Königs wirken ebenso in das Leben der Großeltern hinein wie die Gründung des Schweizerhauses im Jahre 1940, in dem heute das New Europe College untergebracht ist, wo die Ich-Erzählerin im Bukarest der Gegenwart denn auch Quartier nimmt.

Die Politik bringt Eugen und Klara, die ihre Schweizer Staatsbürgerschaft zugunsten der deutschen aufgegeben hat, immer weiter auseinander. Die hetzerischen Artikel im ‚Bukarester Tageblatt’, die Aufrufe der Volksdeutschen in Bukarest, das Staatsbegräbnis Codreanus 1940 im Beisein von hochrangigen Vertretern des Deutschen Reichs, die Bukarester Pogrome, all dies entfernt Klara von ihrem deutschen Ehemann und vom Deutschen überhaupt. Sie verliebt sich in einen Mitarbeiter der Schweizer Gesandtschaft, wegen dem sie bis zum Frühjahr 1944 in Bukarest bleibt, während sie ihre Tochter schon zwei Jahre zuvor in der Schweiz in Sicherheit gebracht hat.

Auch der Großvater bekommt die Härte der Nazi-Diktatur zu spüren. Bei einer Vorladung wird er in der Deutschen Botschaft mit unflätigen Worten beleidigt und als unsicherer Kantonist beschimpft, der lieber im Schweizerhaus mit Franzosen, Juden und Russen verkehrt, als dass er seine nationalen Pflichten bei der Ortsgruppe Bukarest der NSDAP erfüllt. Als Quittung für sein ‚undeutsches’ Verhalten erhält er den schriftlichen Aushebungsbefehl, wird zunächst nach Frankreich und dann an die Ostfront geschickt, bevor er in amerikanische Kriegsgefangenschaft gerät. Das Liebesverhältnis seiner Frau mit dem Schweizer Botschaftsangehörigen entdeckt er beim letzten, unangemeldeten Bukarestbesuch vor seinem Fronteinsatz.

Die Ich-Erzählerin Debora schöpft bei ihrer familiären Spurensuche aus den Memoiren des Großvaters, so wie Jolanda Piniel bei der Abfassung ihres Romans private Aufzeichnungen, aber auch die Tagebücher Mihail Sebastians und das Kriegstagebuch des damaligen Schweizer Botschafters René de Weck zu Rate zog, wobei sie zudem auf die Unterstützung durch den Schweizer Schriftstellerkollegen Christian Haller und den Zürcher Osteuropahistoriker Daniel Ursprung zurückgreifen konnte.

Jolanda Piniel parallelisiert in ihrem Roman nicht nur die einstmalige Ausreise von Deboras Großmutter Klara nach Rumänien mit der Bukarest-Reise der Ich-Erzählerin, sondern lässt am Ende auch deren Mutter Doina an den Ort ihrer Kindheit, in ihr Geburtshaus, in ihre Bukarester Wohnung zurückkehren, von der sie schließlich im Geiste wieder Besitz ergreift, indem sie sie aus dem Gedächtnis zeichnet. „So sieht mein Zuhause aus. Nimm es! Ich schenke es dir.“, sind die dankbaren, an ihre Tochter gerichteten Worte der Mutter und zugleich die letzten des Romans.

Die familiäre Tabuisierung Rumäniens ist am Ende aufgehoben, die Barrieren und Widerstände, die die Großmutter aufgerichtet hat, von der Enkelin überwunden, die dunklen Seiten der privaten Familiengeschichte – etwa die Gewalttätigkeit des Großvaters gegenüber seiner ersten Frau Klara und später auch gegen-über seiner zweiten Frau – wie auch der Zeitgeschichte – die Firma Hofer nahm damals Aufträge von Firmen an, die heimlich Kriegswaffen, Minen, Granaten und Munition produzierten – zur Sprache und ans Licht gebracht.

Das beständige Klopfen in der Heizung des New Europe College wird dabei zum Leitmotiv für die auf die geschichtliche und persönliche Wahrheit pochende Erinnerungsarbeit der Ich-Erzählerin, die keine Ruhe gibt, bevor sie den Dingen nicht auf den Grund gegangen ist. Das Schicksal des Großvaters, eines Heizungsingenieurs der Firma Hofer, wird für sie zur existenziellen, geradezu körperlich erlebten Erinnerung. „Es ist der Großvater, denke ich, er ist im Heißwasser eingesperrt und schlägt von innen gegen die Rohre. Er hämmert, bis er müde wird. Dann ruht er sich aus, um nach einer Weile wieder mit neuer Kraft gegen die Rohre zu schlagen.“

Ein Familienroman, ein Erinnerungsroman, ein Frauenroman, der drei Generationen, ein ganzes Jahrhundert, umfasst, der in sensibler Weise an die Bitterkeit von Menschen rührt, sie langsam löst, sie schließlich vom Schweigen erlöst, das ist Jolanda Piniels Romandebüt, in dem auch die rumänische Kapitale, rumänische Geschichte in ihrer Verwobenheit mit der deutschen, schweizerischen und europäischen, nicht zuletzt rumänische Gegenwart literarisch Form wird und bildhaft Gestalt gewinnt. Der Romantitel „Die Verbannte“ spielt auf jede einzelne der drei Protagonistinnen Klara, Doina und Debora an: Allesamt sind sie auf die eine oder andere Weise aus der Geschichte ihrer Familie verbannt, bis sie mit narrativer Hilfe wieder in die Freiheit wahrhaftiger Erinnerung entlassen werden.


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