Anatomie eines Dreiecks, Erzählungen
Reihe: Caracol Prosa, Band 8
Caracol Verlag, Warth 2022
168 Seiten
ISBN 8978-3-907296-13-4
Mit Texten von: Markus Bundi, Erika Frey Timillero, Oskar Pfenninger, Jolanda Piniel, Viola Rohner, Regine Schaaf, Barbara Traber
Erika Frey Timillero beleuchtet in der titelgebenden Erzählung Anatomie eines Dreiecks die Gefühlskonflikte von Tom, Pilar und Iris, die in einer Dreiecksbeziehung gefangen sind. In Markus Bundis Geschichte Die Fee vom Bodensee eröffnet Annegret nach einem Urlaub in Bulgarien die Wohlfühloase «The Rufa», in der sie und ihre Knabberfische Körper und Seele heilen, doch eines Tages verschwindet die Fee spurlos. Jolanda Piniels Geschichten setzen sich auf ganz unterschiedliche Weise mit dem Tod auseinander. Regine Schaaf durchwandert in ihren Texten das Leben von der Jugend bis ins Alter im Zeitraffer. Oskar Pfenninger gewährt in seinen Prosaskizzen Einblicke ins Japan der 1960er-Jahre. Viola Rohner lädt in ihrer Kairo-Skizze Staub zu einem Rundgang durch das heutige Zamalek ein. Barbara Traber sollte einst Das Luxusbett anpreisen, ergründete aber stattdessen die Bedeutung von wahrem Luxus.
Dieser Erzählband vereint Prosa von sieben Autorinnen und Autoren. Es wurde bewusst kein Thema vorgegeben, sodass die Schreibenden mit einem breiten Spektrum an Geschichten aufwarten. Jolanda Piniel präsentiert fünf teils skurrile teils philosophische Texte: Mutters Gericht, Der Bergsee, Die Suchende, Aus der Stille und Im Nebel.
Im Nebel
Aus der Talsohle steigen Schwaden auf, als gäbe es dort einen Spalt zur Hölle. Sie fransen aus, verfilzen, werden zu Gespenstern mit langgezogenen Köpfen. Oder zu Tieren, aus deren Bäuchen Gedärm quillt. Ich glaube, einen Dünndarm erkennen zu können, drei Lungen, ein Herz und vieles mehr. Keines der Organe behält seine Form. Lautlos ziehen die Nebelnomadentiere mit ihren offenen Bäuchen auf halber Höhe talaufwärts und nähern sich den Wolkengirlanden, die zuoberst im Tal die Berghänge schmücken. Höllensekret und Wolken werden eins.
Winzige Tröpfchen schweben in der Luft, reflektieren das Licht, werden vom Wind da- und dorthin getragen. Ist die Schicht dünn und scheint dahinter die Sonne, so entsteht ein luzides, jubelndes Weiß: Nahtodweiß. Doch meistens ist der Nebel grau: aschgrau, betongrau, lichtgrau, platingrau, taubengrau. Mit der Zeit bemerke ich, dass sich das Grau aus einem Gewimmel winziger Bläschen zusammensetzt, die umherschwirren, platzen und sich vervielfachen. Lebendiges Grau. Lebendnebel – Lebensnebel.
Gibt es ein neugierigeres Wesen? Ein verspielteres? Ein raumergreifenderes? Ein phlegmatischeres? Ein verführerischeres? Kein Fels ist ihm zu schroff, keine Spalte zu eng, kein Unterholz zu dicht. Legt es sich ins Tal, so bleibt es dort oft stunden- oder gar tagelang liegen wie eine Schlange im Verdauungsschlaf. Doch jetzt kriecht es den Hang empor, stülpt sich über die Bäume, umzingelt mein Haus. Schon hat es meinen Balkon erklommen, fegt in kleinen Tornados über den Bretterboden, späht in meine Stube herein. Winkt und zwinkert es mir zu?
Samt ummantelt die Geräusche: das Vogelgezwitscher, die Stimmen der Nachbarn, meine Schritte. Ich gehe durch den Nebelmagen, Lebendmagen, atme ihn ein und mit ihm den Geruch nach feuchtem Gras, Rinde, Tannzapfen, Pilz, nach Erde. Sprühsamt dringt in meine Lungen, die Grenzen meines Körpers werden vage. Ich weiß nicht mehr, wo meine Zehen enden, wo sich die Ellbogen befinden, ob ich einen Bauch habe, und wenn ja, welches Volumen er hat. Auch mein Herzschlag ist Teil der Nebelstille. Ich treffe auf Spuren, frage mich, ob es meine sind.
© Jolanda Piniel