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Dorina Wohlgemuth

    Erinnerungen

    Ich erinnere mich an unsere Waldspaziergänge und an die Fische, die aus der trüben Tiefe des Waldweihers auftauchten. Manche von ihnen waren riesig und hatten grausige Kussmünder, in denen die Brotstücke, die wir ins Wasser geworfen hatten, verschwanden. Karpfen, so hiessen diese Fische. Die kleinen Fische, die sich zu Hunderten in Ufernähe tummelten, nannte meine Mutter Nödeli.

    Die Entenmännchen hatten blaugrünviolett schillernde Köpfe wie Pfauenfedern. Wir zählten die Küken, die hinter ihrer braunen Entenmama herschwammen, und wünschten ihnen Glück. Am Grund des Weihers versteckte sich nämlich ein Ungetüm mit einem Maul voller Zähne, dem Entenkinder besser schmeckten als hartes Brot. «Wie gross ist der Hecht?», wollte ich wissen. Meine Mutter streckte die Arme weit auseinander. «Und sein Maul?», fragte mein Bruder. Hinter den dicken Brillengläsern wirkten die Augen meiner Mutter grösser, als sie in Wirklichkeit waren. Je nach Lichteinfall veränderte sich die Farbe der Iris, war mal blau, mal grün, mal grau. «Schaut her», rief meine Mutter und zeigte unter die Sitzbank, auf der wir gepicknickt hatten und wo nun Waldameisen die zu Boden gefallenen Krumen davontrugen. Kam man ihnen zu nahe, stellten sie sich drohend auf die Hinterbeine, als wären sie winzige Dinosaurier.

    Tiere, überall waren Tiere. Und für alle hatte meine Mutter Namen. Vögel mochte sie besonders gern. Rotbrüstchen, Blaumeisen, Eichelhäher. Nach dem Specht, der irgendwo auf einen Stamm einhämmerte, suchten wir oft vergebens. Dafür entdeckten wir hie und da ein orangebraunes oder schwarzes Eichhörnchen, dessen Bauch hell aufblitzte, wenn es von Ast zu Ast sprang. Nie wilde Tiere streicheln, auch wenn sie ein weiches Fell haben, das trichterte sie uns Kindern ein. An den Baumstämmen in Waldrandnähe hingen Schilder mit roten Buchstaben, die vor einer Krankheit warnten und die sie uns vorlas. Speziell vor Füchsen müssten wir uns in Acht nehmen, mahnte sie. Ein kranker Fuchs verliere seine Scheu und könne leicht mit einem Hund verwechselt werden. Würden wir von ihm gebissen, bekämen wir Fieber, weisser Schaum würde aus unseren Mündern tropfen wie beim Zähneputzen, wir müssten ins Spital und höchstwahrscheinlich würden wir sterben. Um diese Krankheit zu bekämpfen, wurden im Wald Hühnerköpfe mit Impfstoff verteilt.

    Meine Mutter hatte Wörter für alles. In ihrem Mund war die ganze Welt. […]

    Auszug aus «Erinnerungen» von Jolanda Piniel